Nachfolgend ein Beitrag vom 19.9.2017 von Müller-Christmann, jurisPR-BKR 9/2017 Anm. 4
Leitsatz
Bei vorzeitig auf Wunsch des Verbrauchers einvernehmlich gegen Zahlung einer Vorfälligkeitsentschädigung beendetem Darlehensvertrag ist das für die Annahme der Verwirkung erforderliche sog. Umstandsmoment im Sinne einer tatsächlichen Vermutung regelmäßig anzunehmen; dies jedenfalls dann, wenn seit der erfolgten Auflösung des Darlehensvertrags bis zur Erklärung des Widerrufs ein nicht unerheblicher Zeitraum vergangen ist.
A. Problemstellung
Das Problem, ob und unter welchen Voraussetzungen die Bank dem Widerruf des Verbrauchers den Einwand der Verwirkung entgegenhalten kann, beschäftigt die Gerichte seit Jahren. Eine abschließende Entscheidung des XI. Zivilsenats des BGH steht noch aus. Urteilen aus jüngster Zeit kann man entnehmen, dass der BGH die Verwirkung jedenfalls nicht generell ablehnt. Der vom OLG Frankfurt entschiedene Fall betrifft eine Konstellation, bei der eine Verwirkung nach den vom XI. Zivilsenat aufgestellten Kriterien in Betracht kommt.
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der Kläger schloss mit der beklagten Sparkasse am 29.08.2008 einen grundpfandrechtlich gesicherten Darlehensvertrag über 331.000 Euro. Er zahlte über mehrere Jahre auf das Darlehen die fälligen Zins- und Tilgungsraten. Mit Vereinbarung vom 05.06.2013 wurde der Darlehensvertrag einvernehmlich vorzeitig gegen Zahlung einer Vorfälligkeitsentschädigung i.H.v. 19.736,53 Euro aufgehoben. Der Kläger behielt sich dabei vor, „die Vorfälligkeitsentschädigung sowohl ihrer Höhe als auch ihrem Rechtsgrund nach zu überprüfen“. Mit Schreiben vom 25.02.2015 erklärte der Kläger den Widerruf des Darlehensvertrags und forderte die inzwischen geleistete Vorfälligkeitsentschädigung zurück. Die beklagte Bank hat sich auf den Einwand der Verwirkung und der unzulässigen Rechtsausübung berufen. Das Landgericht hat die Klage wegen Verfristung des Widerrufs abgewiesen.
Die Berufung des Klägers, der in 2. Instanz auf eine Feststellungsklage übergegangen war, hatte vor dem OLG Frankfurt keinen Erfolg.
Zwar sei die Widerrufsbelehrung der Beklagten fehlerhaft gewesen und habe daher den Lauf der Widerrufsfrist nicht in Gang setzen können. Der Beklagten komme auch nicht die Gesetzlichkeitsfiktion des Musters für die Widerrufsbelehrung gemäß Anlage 2 zu § 14 BGB-InfoV a.F. zugute, weil sie u.a. durch Einfügen von Fußnoten das Muster für die Widerrufsbelehrung einer inhaltlichen Bearbeitung unterzogen habe. Wegen der nicht ordnungsgemäßen Belehrung bestehe das Recht des Klägers fort, seine auf Abschluss des Darlehensvertrags gerichtete Willenserklärung zu widerrufen; auch die einvernehmliche Auflösung des Darlehensvertrags habe nicht zum Erlöschen des Widerrufsrechts geführt.
Das Widerrufsrecht ist nach Auffassung des Oberlandesgerichts jedoch verwirkt, nachdem das Darlehensvertragsverhältnis einvernehmlich zum 30.06.2013 gegen Zahlung der Vorfälligkeitsentschädigung aufgelöst worden ist. Löse der Verbraucher ein Verbraucherdarlehen unter Zahlung einer Vorfälligkeitsentschädigung ab, so sei das Umstandsmoment regelmäßig zu bejahen, weil sich die darlehensgebende Bank – im Sinne einer tatsächlichen Vermutung – darauf einrichten dürfe und werde, dass der Vorgang aufgrund der willentlichen Beendigung des Darlehensverhältnisses durch den Darlehensnehmer abgeschlossen sei. Für die Annahme einer solchen tatsächlichen Vermutung spreche vorliegend auch der Umstand, dass der Kläger nach Ablösung des Darlehens und Zahlung der Vorfälligkeitsentschädigung mehr als 19 Monate habe verstreichen lassen, bevor er den Widerruf erklärt habe.
C. Kontext der Entscheidung
I. Unwirksamkeit der Belehrung
Es handelte sich im vorliegenden Fall um eine Widerrufsbelehrung mit Fußnotenzusätzen, deren Unwirksamkeit inzwischen mehrfach von Obergerichten (OLG Frankfurt, Urt. v. 18.05.2016 – 17 U 67/15; OLG Düsseldorf, Urt. v. 21.01.2016 – I-6 U 296/14 Rn. 19; OLG Köln, Beschl. v. 13.04.2016 – 13 U 241/15 Rn. 6; OLG München, Urt. v. 21.10.2013 – 19 U 1208/13 Rn. 37), aber auch vom BGH (Urt. v. 12.07.2016 – XI ZR 564/15 Rn. 19 – WM 2016, 1930) festgestellt wurde.
Wie das OLG Frankfurt in der Besprechungsentscheidung zutreffend hervorhebt, unterrichtet die streitgegenständliche Widerrufsbelehrung nicht deutlich über die Länge der Widerrufsfrist, weil sie zwar die Frist gemäß § 355 Abs. 2 Satz 1 BGB i.d.F. vom 02.12.2004 grundsätzlich richtig mit „zwei Wochen“ angibt, durch den Zusatz einer Fußnote mit dem Text „Bitte Frist im Einzelfall prüfen“ indessen den Eindruck vermittelt, die Länge der Frist könne je nach den nicht mitgeteilten Umständen des Einzelfalles variieren und es sei Aufgabe des Verbrauchers, die in seinem Fall geltende Frist selbst festzustellen. Auch der Auffassung, der Beklagten komme die Gesetzlichkeitsfiktion des Musters für die Widerrufsbelehrung gemäß Anlage 2 zu § 14 BGB-InfoV a.F. nicht zugute, kann zugestimmt werden. Die Beklagte hat das Muster für die Widerrufsbelehrung einer inhaltlichen Bearbeitung unterzogen, die über das nach § 14 Abs. 3 BGB-InfoV a.F. Erlaubte hinausgeht. Sie hat u.a. zwei Fußnoten eingefügt, die das Muster für die Widerrufsbelehrung nicht vorsah (vgl. auch OLG Frankfurt, Urt. v. 18.05.2016 – 17 U 67/15 m. Anm. Müller-Christmann, jurisPR-BKR 7/2017 Anm. 5).
II. Widerruf trotz Aufhebungsvereinbarung
Das Widerrufsrecht ist nicht bereits mit der einvernehmlichen Auflösung des Darlehensvertrags mit Vereinbarung vom 05.06.2013 erloschen. Dies folgt aus dem Zweck des Widerrufsrechts, dem Verbraucher die Möglichkeit zu geben, sich von dem geschlossenen Vertrag auf einfache Weise zu lösen, ohne die mit sonstigen Nichtigkeits- und Beendigungsgründen verbundenen Rechtswirkungen in Kauf nehmen zu müssen. Daher kann der Verbraucher seine auf Abschluss eines Verbrauchervertrags gerichtete Willenserklärung widerrufen, auch wenn die Parteien den Vertrag vor Ausübung des Widerrufsrechts bereits einvernehmlich beendet haben, ohne sich zugleich über das Widerrufsrecht zu vergleichen (BGH, Urt. v. 11.10.2016 – XI ZR 482/15 Rn. 28 – WM 2016, 2295).
III. Verwirkung
Die Verwirkung als Unterfall der unzulässigen Rechtsausübung wegen der illoyal verspäteten Geltendmachung von Rechten setzt, was der XI. Zivilsenat des BGH in der 2. Hälfte des letzten Jahres für die Verwirkung des Verbraucherwiderrufsrechts verdeutlicht und präzisiert hat (BGH, Urt. v. 12.07.2016 – XI ZR 501/15 Rn. 40 – WM 2016, 1835 und XI ZR 564/15 Rn. 37 – WM 2016, 1930; BGH, Urt. v. 11.10.2016 – XI ZR 482/15 Rn. 30 – WM 2016, 2295), neben einem Zeitmoment, für das die maßgebliche Frist mit dem Zustandekommen des Verbrauchervertrags zu laufen beginnt, ein Umstandsmoment voraus. Ein Recht ist verwirkt, wenn sich der Schuldner wegen der Untätigkeit seines Gläubigers über einen gewissen Zeitraum hin bei objektiver Beurteilung darauf einrichten darf und eingerichtet hat, dieser werde sein Recht nicht mehr geltend machen, so dass die verspätete Geltendmachung gegen Treu und Glauben verstößt. Zu dem Zeitablauf müssen besondere, auf dem Verhalten des Berechtigten beruhende Umstände hinzutreten, die das Vertrauen des Verpflichteten rechtfertigen, der Berechtigte werde sein Recht nicht mehr geltend machen. Damit hat der BGH der auch von Obergerichten (OLG Hamburg, Urt. v. 16.10.2015 – 13 U 45/15 Rn. 35) vertretenen Auffassung, das Institut der Verwirkung finde auf das „ewige“ Widerrufsrecht keine Anwendung, eine Absage erteilt.
Gerade bei beendeten Verbraucherdarlehensverträgen kann nach der neueren Rechtsprechung das Vertrauen des Unternehmers auf ein Unterbleiben des Widerrufs schutzwürdig sein, auch wenn die von ihm erteilte Widerrufsbelehrung den gesetzlichen Vorschriften nicht entsprach und er es in der Folgezeit versäumt hat, den Verbraucher nachzubelehren. Das gilt in besonderem Maße, wenn die Beendigung des Darlehensvertrags auf einen Wunsch des Verbrauchers zurückgeht. Dieser Argumentation, die zuvor schon das OLG Köln (Urt. v. 08.06.2016 – 13 U 23/16 Rn. 25 – BKR 2016, 423) vertreten hatte, schließt sich der 19. Zivilsenat des OLG Frankfurt in vollem Umfang an (ebenso OLG Schleswig, Urt. v. 06.10.2016 – 5 U 72/16 Rn. 41 – ZIP 2016, 2462; OLG Brandenburg, Urt. v. 04.01.2017 – 4 U 199/15 Rn. 55; anders freilich der 10. Zivilsenat des OLG Frankfurt, Urt. v. 22.11.2016 – 10 U 78/15 Rn. 27).
Verwirkung in Fällen einer Aufhebungsvereinbarung anzunehmen, lässt sich gut begründen; das Argument, dem Kreditinstitut könne nicht vorgehalten werden, dass es versäumt habe, die fehlerhafte Widerrufsbelehrung im Rahmen einer Nachbelehrung zu korrigieren, überzeugt allerdings nicht. Natürlich ist eine (grundsätzlich noch weiterbestehende Möglichkeit der) Nachbelehrung nach Vertragsbeendigung nicht mehr sinnvoll, weil die Willenserklärung des Verbrauchers, deren fortbestehende Widerruflichkeit in das Bewusstsein des Verbrauchers zu rücken Ziel der Nachbelehrung ist, für den Verbraucher keine in die Zukunft gerichteten wiederkehrenden belastenden Rechtsfolgen mehr zeitigt. Zeitlicher Anknüpfungspunkt muss jedoch nicht die Aufhebungsvereinbarung sein, sondern die Zeit davor, in der eine Nachbelehrung zur Korrektur der fehlerhaften Widerrufsbelehrung durchaus hätte vorgenommen werden können (vgl. auch Schnauder, jurisPR-BKR 1/2017 Anm. 1 unter C.II.).
Dem Ergebnis der Verwirkung steht auch nicht entgegen, dass sich der Kläger bei Abschluss der Auflösungsvereinbarung vorbehalten hat, die Vorfälligkeitsentschädigung sowohl ihrer Höhe nach als auch ihrem Rechtsgrund nach zu überprüfen. Dieser Vorbehalt betrifft Grund und Höhe der von der Beklagten berechneten Vorfälligkeitsentschädigung, stellt aber keine Bedingung für den Abschluss der Auflösungsvereinbarung dar und ist auch nicht in der Weise zu verstehen, dass sich der Kläger die Erklärung seines Widerrufsrechts vorbehalten habe.
IV. Tatsächliche Vermutung für Verwirkung
Ohne Not begibt sich das OLG Frankfurt – wie vorher schon das OLG Schleswig (Urt. v. 06.10.2016 – 5 U 72/16 Rn. 41 – ZIP 2016, 2462) – auf ein gefährliches Terrain, indem es im Zusammenhang mit der Verwirkung mehrfach von einer „tatsächlichen Vermutung“ spricht. Tatsächliche Vermutungen sind „auf der Lebenserfahrung beruhende, aus freier richterlicher Würdigung hervorgegangene Schlüsse oder Beweisanzeichen, die einen weiteren Beweis überflüssig machen können oder, wenn ihnen eine so starke Beweiskraft nicht zukommt, neben anderen Umständen zu würdigen sind“ (BSG, Urt. v. 29.03.1963 – 2 RU 75/61 – BSGE 19, 52; Huber in: Musielak/Voit, ZPO, 13. Aufl. 2016, § 292 Rn. 1; Greger in: Zöller, ZPO, 31. Aufl. 2016, vor § 284 Rn. 33). Die tatsächliche Vermutung ist danach eine Annahme, die sich auf einen Erfahrungssatz für die Richtigkeit der von ihr getroffenen Aussage stützt. Typische Anwendungsfälle für tatsächliche Vermutungen sind etwa die Vermutung der Vollständigkeit und Richtigkeit einer Urkunde, die Vermutung für verwerfliches Handeln bei objektiver Sittenwidrigkeit und Fallgruppen der Verletzung von Aufklärungspflichten von Rechtsanwälten und Anlageberatern.
Sätze der allgemeinen Lebenserfahrung werden zur Beurteilung der Frage herangezogen, ob für das Vorliegen einer streitigen Tatsache eine so hohe Wahrscheinlichkeit spricht, dass das Gericht sie seiner Entscheidung zugrunde legen kann. Sie betreffen daher den Bereich der Beweiswürdigung, nämlich die Frage, ob der beweisbelasteten Partei die Beweisführung gelungen ist (krit. zur Tauglichkeit des Begriffes der tatsächlichen Vermutung Prütting in: MünchKomm ZPO 5. Aufl. 2016; § 292 Rn. 28; Greger in: Zöller/Greger, ZPO, 31. Aufl. 2016, vor § 284 Rn. 33; Laumen, MDR 2015, 1). Bei der Prüfung der hochstreitigen Voraussetzungen der Verwirkung hat eine tatsächliche Vermutung keinen Platz. Der XI. Zivilsenat des BGH hebt insoweit ausdrücklich hervor: „Ob eine Verwirkung vorliegt, richtet sich letztlich nach den vom Tatrichter festzustellenden und zu würdigenden Umständen des Einzelfalls, ohne dass insofern auf Vermutungen zurückgegriffen werden kann“ (BGH, Urt. v. 11.10.2016 – XI ZR 482/15 Rn. 30 – WM 2016, 2295).
D. Auswirkungen für die Praxis
Das Urteil des OLG Frankfurt liegt, was die Ausführungen zur Verwirkung des Widerrufsrechts bei Verbraucherdarlehensverträgen angeht, ganz auf der Linie der neueren Rechtsprechung des BGH. Es steht zu erwarten, dass weitere Oberlandesgerichte dem folgen.
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