Nachfolgend ein Beitrag vom 26.2.2016 von Wenn, jurisPR-ITR 4/2016 Anm. 2

Leitsatz

Bei Erwerb eines Nachschlagewerkes in einer Haustürsituation zum Teilzahlungspreis kann sich die Ausübung eines nicht erloschenen Widerrufsrechts als Rechtsmissbrauch (venire contra factum proprium) darstellen, wenn der Vertragspartner des Verbrauchers auf dessen nach Vertragsabschluss erhobene Beanstandungen eingegangen ist und die Erklärung des Widerrufs mehrere Jahre nach beiderseitiger vollständiger Erbringung aller Leistungen einschließlich der Teilzahlungen des Verbrauchers erfolgt.

A. Problemstellung

Das Widerrufsrecht gemäß § 355 BGB gehört zu den Kernelementen des europäischen Verbraucherschutzrechts. Die vorliegende Entscheidung betrifft die Frage, ob und ggf. unter welchen Umständen die Ausübung des sog. ewigen Widerrufsrechts treuwidrig ist. Von einem ewigen Widerrufsrecht spricht man, wenn die Widerrufsfrist mangels ordnungsgemäßer Widerrufsbelehrung nicht zu laufen begonnen hat und daher nicht ablaufen kann. Nach Umsetzung der Verbraucherrechte-Richtlinie 2011/83/EU stellt sich diese Frage im Zusammenhang mit Fernabsatz- und Haustürgeschäften nur noch für Altfälle (vgl. § 356 Abs. 3 Satz 2 BGB). Nach wie vor aktuell ist sie aber im Bereich der Verbraucherdarlehensverträge, weil das Widerrufsrecht gemäß den §§ 495, 355 BGB, auf das § 356 BGB keine Anwendung findet, auch für Verbraucherdarlehensverträge gilt, die außerhalb von Geschäftsräumen des Darlehensgebers oder als Fernabsatzgeschäfte zustande kommen (§ 312g Abs. 3 BGB).
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der Kläger hatte mit der Beklagten am 16.12.2003 in einer Haustürsituation (i.S.v. § 312 BGB a.F.) einen Ratenzahlungskaufvertrag über zwei hochpreisige mehrbändige Nachschlagewerke bzw. multimediale Bildungssysteme geschlossen. Die Beklagte belehrte den Kläger zwar in der Bestellurkunde über das ihm zustehende Widerrufsrecht, allerdings nicht ordnungsgemäß. Am 26.07.2004 bestellte der Kläger Ergänzungsbände, widerrief seine Bestellung jedoch mit Schreiben vom 04.08.2004. In diesem Schreiben warf er der Beklagten ein unseriöses Geschäftsgebaren im Zusammenhang mit seiner Bestellung vom 26.07.2004 vor, insbesondere dass man ihn über den Inhalt seiner Bestellung getäuscht habe. Er wies die Beklagte ausdrücklich darauf hin, dass er auch überlege, sich von dem am 16.12.2003 geschlossenen Vertrag zu lösen, sollte die Beklagte nicht näher bezeichnete Forderungen erfüllen. Zu diesen Forderungen gehörte u.a., dass die Beklagte die Lieferung einer CD-ROM nachholt, die zum Leistungsumfang des am 16.12.2003 geschlossenen Vertrags gehörte und dem Kläger für eine Dauer von drei Jahren den Zugang zu einem Wissenscenter verschaffen sollte. Die Beklagte reagierte mit Schreiben vom 06.08.2004 und erfüllte die Forderungen des Klägers; insbesondere übersandte sie die CD-ROM und verlängerte den Berechtigungszeitraum für die Nutzung des Wissenscenters bis
August 2007. Mit Anwaltsschreiben vom 10.12.2012, mithin knapp neun Jahre nach Vertragsschluss, ließ der Kläger den Widerruf seiner auf Abschluss des Kaufvertrags vom 16.12.2003 gerichteten Willenserklärung erklären und verlangte die Rückabwicklung des Kaufvertrags.
Das LG Saarbrücken hatte der Klage stattgegeben, vor dem OLG Saarbrücken konnte sich der Kläger jedoch nicht durchsetzen; das Oberlandesgericht hob das Urteil der Vorinstanz auf und wies die Klage ab. Zwar teilt das OLG Saarbrücken die Auffassung des Landgerichts, dass die Beklagte den Kläger in der Bestellurkunde vom 16.12.2003 nicht ordnungsgemäß über sein Widerrufsrecht belehrt und die Widerrufsfrist daher nicht zu laufen begonnen hatte. Es erachtet jedoch die Ausübung des Widerrufsrechts wegen widersprüchlichen Verhaltens für treuwidrig. Das OLG Saarbrücken begründet seine Auffassung damit, dass der Kläger 2012 den Widerruf erklärt, obwohl die Beklagte seine Forderungen im Schreiben vom 04.08.2004 erfüllt und der Kläger erklärt hatte, hiervon abhängig machen zu wollen, ob er sich auch von dem am 16.12.2003 geschlossenen Kaufvertrag löst.
C. Kontext der Entscheidung
Die Frage, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen der Ausübung des ewigen Widerrufsrechts der Einwand des treuwidrigen Verhaltens entgegensteht, beschäftigt Rechtsprechung und Literatur bereits seit längerem. Besonders virulent ist sie im Zusammenhang mit Verbraucherdarlehensverträgen, weil das ewige Widerrufsrecht den Darlehensnehmern die – zum Teil anwaltlich offensiv beworbene – Möglichkeit eröffnet, sich von Altverträgen zu lösen, um so in den Genuss des aktuell niedrigen Zinsniveaus zu kommen.
Diskutiert werden in diesem Zusammenhang – auch in der vorliegenden Entscheidung – die Verwirkung des Widerrufsrechts sowie seine Unzulässigkeit wegen widersprüchlichen Verhaltens. Die Verwirkung stellt hierbei einen Unterfall widersprüchlichen Verhaltens dar (Schubert in: MünchKomm BGB, 7. Aufl. 2016, § 242 Rn. 310). Beiden Fällen ist gemeinsam, dass das Verhalten des Berechtigten zugunsten des anderen einen Vertrauenstatbestand schafft, aufgrund dessen der andere darauf vertrauen darf, dass der Berechtigte ihm zustehende Rechte nicht ausübt. Die Verwirkung knüpft dabei im Wesentlichen an die Untätigkeit des Berechtigten an, während beim venire contra factum proprium Anknüpfungspunkt ein bestimmtes Handeln des Berechtigten ist, zu dem die spätere Geltendmachung eines ihm zustehenden Rechts in unauflösbarem Widerspruch steht (Schubert in: MünchKomm BGB, § 242 Rn. 344).

Das OLG Saarbrücken lässt offen, ob das Widerrufsrecht verwirkt werden kann. In Übereinstimmung mit der höchst- und obergerichtlichen Rechtsprechung stellt es insoweit fest, dass an eine Verwirkung jedenfalls strenge Voraussetzungen zu stellen sind, weil der Gesetzgeber die Risiken, die sich aus einer fehlerhaften Widerrufsbelehrung ergeben, ausschließlich dem Unternehmer zugewiesen hat (BGH, Urt. v. 07.05.2014 – IV ZR 76/11 Rn. 39; OLG Frankfurt, Urt. v. 27.01.2016 – 17 U 16/15 Rn. 33). Die aktuelle Rechtsprechung ist freilich uneinheitlich: Zum Teil schließt sie eine Verwirkung des Widerrufsrechts aus und begründet dies damit, dass sich der Unternehmer, der durch seine fehlerhafte Widerrufsbelehrung für die mangelnde Befristung des Widerrufsrecht verantwortlich ist, bereits wegen dieser Pflichtverletzung auf kein schützenswertes Vertrauen auf die Nichtausübung des Widerrufsrechts berufen kann (BGH, Urt. v. 07.05.2014 – IV ZR 76/11 Rn. 39). Beim Verbraucherdarlehensrecht fällt noch erschwerend zulasten des Unternehmers ins Gewicht, dass er fehlerhafte Angaben – auch zum Widerrufsrecht – gemäß § 492 Abs. 6 BGB nachholen kann (vgl. z.B. OLG Karlsruhe, Urt. v. 14.04.2015 – 17 U 57/14 Rn. 31; OLG Stuttgart, Urt. v. 06.10.2015 – 6 U 148/14 Rn. 50; OLG Stuttgart, Urt. v. 24.11.2015 – 6 U 140/14 Rn. 52; LG Düsseldorf, Urt. v. 04.12.2015 – 10 O 120/15 Rn. 33; dagegen: OLG Köln, Urt. v. 11.12.2015 – 13 U 123/14 Rn. 27, 30, das gerade bei abgewickelten Darlehensverträgen eine derartige Nachholung für übertrieben erachtet).

Nach dieser Rechtsprechung begründet selbst die vollständige Erfüllung des Vertrags durch den Verbraucher keinen Vertrauenstatbestand, auf den sich der Unternehmer berufen kann (OLG Frankfurt, Urt. v. 27.01.2016 – 17 U 16/15 Rn. 34; LG Düsseldorf, Urt. v. 04.12.2015 – 10 O 120/15 Rn. 33). Selbst wenn sich der Unternehmer auf die Nichtausübung des Widerrufsrechts eingerichtet haben sollte und ihm durch seine Ausübung ein erheblicher Nachteil entstünde, könnte er sich daher nicht auf eine Verwirkung berufen (vgl. OLG Frankfurt, Urt. v. 27.01.2016 – 17 U 16/15 Rn. 33). Das OLG Düsseldorf hält dagegen eine Verwirkung des Widerrufsrechts zumindest in den Fällen für möglich, in denen der Widerruf erfolgt, nachdem das Darlehen fünf Jahre oder mehr vor Ausübung des Widerrufsrechts vollständig zurückgeführt worden ist (OLG Düsseldorf, Urt. v. 09.01.2014 – 14 U 55/13). Dies soll jedenfalls in denjenigen Fällen gelten, in denen die Widerrufsbelehrung nur geringfügig fehlerhaft ist, sodass der Verbraucher grundsätzlich in der Lage war, sein Widerrufsrecht auszuüben (so auch i.E. OLG Köln, Urt. v. 11.12.2015 – 13 U 123/14 Rn. 29), und sich der Unternehmer in einem entschuldbaren Rechtsirrtum befunden hat. Dem ist allerdings mit dem OLG Stuttgart entgegenzuhalten, dass die Wirksamkeit eines Widerrufs nicht davon abhängt, dass die Nichtausübung des Widerrufsrechts auf der Fehlerhaftigkeit der Widerrufsbelehrung beruht (OLG Stuttgart, Urt. v. 06.10.2015 – 6 U 148/14 Rn. 44 f.; LG Limburg, Urt. v. 14.01.2016 – 2 O 204/15 Rn. 36) und es zudem für das Entstehen eines Vertrauenstatbestands zugunsten des Unternehmers unerheblich ist, ob der Verbraucher sein Widerrufsrecht nicht ausübt, weil er infolge einer unterbliebenen Belehrung nicht weiß, dass ihm ein Widerrufsrecht zusteht, oder er irrtümlich annimmt, sein Widerrufsrecht sei verfristet (OLG Brandenburg, Urt. v. 23.12.2015 – 4 U 146/14 Rn. 66). Hinzu kommt, wie das OLG Celle zutreffend festgestellt hat, dass das Widerrufsrecht „essentieller Bestandteil des Verbraucherschutzrechts“ ist, das generell nicht zur Disposition der Unternehmer steht, sodass Verletzungen der Belehrungspflicht niemals geringfügig seien (OLG Celle, Beschl. v. 02.12.2015 – 3 U 108/15 Rn. 54).
Uneinheitlich ist die aktuelle Rechtsprechung auch im Hinblick darauf, ob die Ausübung des Widerrufsrechts eine unzulässige Rechtsausübung darstellen kann. Im Vergleich zu den veröffentlichen Entscheidungen betrifft das vorliegende Urteil einen Sonderfall (die Ausübung des Widerrufsrechts nach vorheriger Androhung wird – soweit ersichtlich – nur noch in OLG Stuttgart, Urt. v. 06.10.2015 – 6 U 148/14 Rn. 48 angesprochen). Insoweit liegt die Argumentation des OLG Saarbrücken auf einer Linie mit gewichtigen Stimmen in der Fachliteratur, die von einer unzulässigen Rechtsausübung ausgehen, wenn die Ausübung eines Rechts zunächst nur angedroht wird, der Ankündigung dann aber nicht zeitnah Taten folgen (Schürnbrand in: MünchKomm BGB, 7. Aufl. 2016, § 495 Rn. 13 – Schürnbrand ordnet diese Fallgruppe freilich der Verwirkung zu, was insoweit nicht ganz zutrifft, als in diesen Fällen nicht allein der Zeitablauf einen Vertrauenstatbestand schafft, sondern erst das Untätigbleiben entgegen der früheren Androhung).
Sieht man von dieser besonderen Fallkonstellation ab, bewertet die Rechtsprechung insbesondere die Frage uneinheitlich, inwieweit es auf die Motive des Verbrauchers ankommt, das Widerrufsrecht erst so spät auszuüben. Das OLG Düsseldorf vertritt die Auffassung, dass das Widerrufsrecht dem Übereilungsschutz dient und der Verbraucher die Möglichkeit haben soll, seine Entscheidung noch einmal zu überdenken (OLG Düsseldorf, Urt. v. 21.01.2016 – 6 U 296/14 Rn. 22). Da aber das Widerrufsrecht grundsätzlich auf 14 Tage befristet sei, solle es nicht dazu dienen, dem Verbraucher aufgrund zwischenzeitlich eingetretener Umstände und Kenntnisse „die Möglichkeit zu verschaffen, gleichsam von höherer Warte aus die Sinnhaftigkeit des Vertragsschlusses besser beurteilen zu können“ (OLG Düsseldorf, Urt. v. 21.01.2016 – 6 U 296/14 Rn. 22). Diese Argumentation kann bereits deshalb nicht überzeugen, weil in den maßgeblichen Fällen das Widerrufsrecht gerade nicht auf 14 Tage befristet ist. Wenn der Sinn des Widerrufsrechts darin besteht, den Vertragsschluss zu überdenken, so ist dieser Sinn nicht auf die ersten 14 Tage der Widerrufsfrist beschränkt. Ergänzend ist das OLG Düsseldorf der Meinung, dass sich die Ausübung des Widerrufsrechts auch deshalb als treuwidrig darstellen kann, weil der Verbraucher mit ihm unlautere Zwecke, insbesondere die Erlangung
finanzieller Vorteile verfolgt (OLG Düsseldorf, Urt. v. 21.01.2016 – 6 U 296/14 Rn. 26).
Dem hält die überwiegende Zahl der Gerichte zutreffenderweise entgegen, dass es für die Ausübung des Widerrufsrecht weder auf die Motivlage des Verbrauchers noch auf die Schutzwürdigkeit seiner Interessen ankommt (z.B. OLG Stuttgart, Urt. v. 06.10.2015 – 6 U 148/14 Rn. 44; LG Düsseldorf, Urt. v. 04.12.2015 – 10 O 120/15 Rn. 38 f.). Zudem ist auch in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen, dass der Unternehmer erst durch seine Pflichtverletzung dem Verbraucher die Möglichkeit eröffnet hat, von seinem Widerruf unbefristet Gebrauch zu machen (OLG Celle, Beschl. v. 02.12.2015 – 3 U 108/15 Rn. 54).
D. Auswirkungen für die Praxis
Der Großteil der einschlägigen Entscheidungen, in deren Kontext auch die vorliegende Entscheidung steht, stammt erst aus der zweiten Hälfte 2015. Die Diskussion wird jetzt erst so richtig an Fahrt gewinnen. Erst die weitere Entwicklung wird zeigen, ob sich die obergerichtliche Rechtsprechung angleichen oder der BGH die offenen Fragen klären wird. Im Moment erscheint die Berufung auf eine Verwirkung oder treuwidrige Ausübung des ewigen Widerrufsrechts nur in ganz seltenen Ausnahmefälle, wie dem vorliegenden, Aussicht auf Erfolg zu haben.
Am 18.02.2016 hat der Bundestag im Zuge der Umsetzung der Richtlinie 2014/17/EU über Wohnimmobilienkreditverträge für Verbraucher das ewige Widerrufsrecht für Immobiliar-Verbraucherdarlehensverträge abgeschafft. Wie sich aus der BT-Drs. 18/7584 ergibt, sieht § 356b Abs. 2 Satz 4 BGB n.F. vor, dass das Widerrufsrecht künftig nach zwölf Monaten und 14 Tagen erlischt. Das ewige Widerrufsrecht bei sonstigen, künftig Allgemein-Verbraucherdarlehensverträgen genannten entgeltlichen Verbraucherdarlehensverträgen, bei denen der Darlehensgeber den Darlehensnehmer nicht oder fehlerhaft über sein Widerrufsrecht belehrt, bleibt unangetastet (für unentgeltliche Darlehensverträge mit Verbrauchern gilt dies gem. § 356b BGB n.F. nicht). Die Gesetzesänderung tritt zum 21.03.2016 in Kraft. Für Verbraucherdarlehensverträge, die zwischen dem 01.09.2002 bis zum 10.06.2010 geschlossen wurden und für die die Widerrufsfrist mangels ordnungsgemäßer Widerrufsbelehrung noch nicht zu laufen begonnen hat, erlischt das „ewige Widerrufsrecht“ gemäß der für diese Gesetzesänderung geltenden Übergangsvorschrift in Art. 229 EGBGB spätestens drei Monate nach dem 21.03.2016. – Auch wenn der Gesetzgeber damit den derzeitigen Hauptanwendungsfall des ewigen Widerrufsrechts bei Darlehensverträgen nunmehr zugunsten der Darlehensgeber beseitigt hat, hat sich damit das hier in Rede stehende Problem nicht erledigt, allenfalls künftig für die Praxis entschärft. Gleichwohl wird es in der nächsten Zeit noch virulent sein, denn man darf damit rechnen, dass Verbraucher, die bislang nur mal mit dem Gedanken eines Widerrufs gespielt haben, aufgrund der Auslauffrist die bislang für sie günstige Rechtsprechung noch ausnutzen und daher ihren Darlehensvertrag widerrufen werden, so ihnen ein ewiges Widerrufsrecht zusteht.