Nachfolgend ein Beitrag vom 17.7.2018 von Müller-Christmann, jurisPR-BKR 7/2018 Anm. 3

Leitsatz

Allein der Umstand, dass ein Anleger, dem nach Abschluss der Beratung zum (formalen) Vollzug der bereits getroffenen Anlageentscheidung kurz der Zeichnungsschein zur Unterschrift vorgelegt wird, den Text des Scheins vor der Unterzeichnung nicht durchliest und deshalb nicht den Widerspruch zwischen der erfolgten Beratung und im Schein enthaltenen Angaben zur Anlage bemerkt, rechtfertigt für sich nicht den Vorwurf grob fahrlässiger Unkenntnis i.S.d. § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB.

A. Problemstellung

Dem Vorwurf der nicht anlegergerechten Beratung begegnen die in Anspruch genommenen Berater oder Vermittler häufig mit dem Gegenvorwurf, der Kunde hätte bei aufmerksamer Lektüre der Prospekte erkennen können, dass einzelne Angaben im Beratungsgespräch unzutreffend oder unvollständig waren. Vorgebracht wird dieser Einwand weniger, um ein Mitverschulden darzulegen, sondern vielmehr um die in Fällen dieser Art häufig relevante Einrede der Verjährung zu begründen.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Die Klägerin macht gegen die Beklagte Schadensersatzansprüche wegen Beratungspflichtverletzungen im Zusammenhang mit der Zeichnung von Genussrechtsbeteiligungen an der inzwischen insolventen H. GmbH geltend. Das Landgericht hat der Klage nach Durchführung einer Beweisaufnahme im Wesentlichen stattgegeben, weil die Beratung durch die Beklagte nicht anlegergerecht gewesen sei. Der Anspruch auf Schadensersatz sei nicht verjährt. Soweit sich im kleingedruckten Text der Zeichnungsscheine auch Risikohinweise befunden hätten, stehe fest, dass die Klägerin den Text bei der Unterzeichnung nicht gelesen und deshalb die Diskrepanz zur erfolgten Beratung nicht erkannt habe. Dieses Verhalten der Klägerin sei allenfalls als normal fahrlässig einzustufen, sodass die Voraussetzungen des § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB nicht vorlägen. Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht die Klage mit der Begründung abgewiesen, das Unterschreiben der Zeichnungsscheine ohne vorherige Lektüre des Inhalts sei grob fahrlässig und die Klageforderung deshalb verjährt (OLG Frankfurt, Urt. v. 22.01.2016 – 24 U 156/14).
Die Revision führte im Wege eines Versäumnisurteils zur teilweisen Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
Der BGH widerspricht der Auffassung des Berufungsgerichts, das Unterlassen der Lektüre der Zeichnungsscheine stelle eine grobe Fahrlässigkeit dar. Der Anleger müsse regelmäßig nicht damit rechnen, dass der Text eines Zeichnungsscheins, der ihm nach Abschluss der Beratung zum (formalen) Vollzug der bereits getroffenen Anlageentscheidung vorgelegt wird, substantielle Hinweise auf Eigenschaften und Risiken der Kapitalanlage enthalte. Die unterlassene Lektüre sei daher in einer solchen Situation für sich allein genommen nicht schlechthin unverständlich oder unentschuldbar.

C. Kontext der Entscheidung

I. Grob fahrlässige Unkenntnis
Nach § 195 BGB beträgt die regelmäßige Verjährungsfrist drei Jahre. § 199 BGB setzt den Beginn der Frist mit Schluss des Jahres in Lauf, in dem der Anspruch entstanden ist und der Gläubiger Kenntnis von den den Anspruch begründenden Umständen und der Person des Schuldners erlangt hat. Da positive Kenntnis schwer nachzuweisen ist, konzentriert sich die Auseinandersetzung in der Praxis auf die Voraussetzungen der der Kenntnis gleichstehenden grob fahrlässigen Unkenntnis. Die Definition der groben Fahrlässigkeit i.S.v. § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB entnimmt der III. Zivilsenat des BGH früheren Entscheidungen (BGH, Urt. v. 08.07.2010 – III ZR 249/09 Rn. 27 f.; BGH, Urt. v. 22.09.2011 – III ZR 186/10 Rn. 10; BGH, Urt. v. 17.03.2016 – III ZR 47/15 Rn. 10 f.). Grobe Fahrlässigkeit setzt demnach einen objektiv schwerwiegenden und subjektiv nicht entschuldbaren Verstoß gegen die Anforderungen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt voraus. Grob fahrlässige Unkenntnis liegt vor, wenn dem Gläubiger die Kenntnis deshalb fehlt, weil er naheliegende Überlegungen nicht angestellt oder das nicht beachtet hat, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen, wie etwa dann, wenn sich dem Gläubiger die den Anspruch begründenden Umstände förmlich aufgedrängt haben und er leicht zugängliche Informationsquellen nicht genutzt hat. Dem Gläubiger muss also ein schwerer Obliegenheitsverstoß in seiner eigenen Angelegenheit der Anspruchsverfolgung, eine schwere Form von „Verschulden gegen sich selbst“, vorgeworfen werden können. Generell trifft ihn keine Obliegenheit, im Interesse des Schuldners an einem möglichst frühzeitigen Beginn der Verjährungsfrist Nachforschungen zu betreiben; vielmehr muss das Unterlassen von Ermittlungen nach Lage des Falls als geradezu unverständlich erscheinen (BGH, Urt. v. 10.11.2009 – VI ZR 247/08).
II. Nichtlektüre von Prospekten
Die Frage, ob ein Anleger grob fahrlässig handelt, wenn er ihm übergebene Prospekte nicht sorgfältig oder gar überhaupt nicht liest, beschäftigt die Rechtsprechung schon länger. Immer wieder hatten Oberlandesgerichte es für einen den Vorwurf grober Fahrlässigkeit rechtfertigenden schweren Verstoß gegen die Gebote des eigenen Interesses gehalten, wenn der Anleger im Zusammenhang mit einer bedeutsamen Investitionsentscheidung den ihm von einem Anlageberater (oder Anlagevermittler) zur Verfügung gestellten Prospekt nicht durchliest und aus diesem Grunde nicht bemerkt, dass er falsch beraten oder ihm eine unrichtige Auskunft erteilt worden ist (so OLG Frankfurt, Urt. v. 14.01.2008 – 18 U 28/07; OLG Celle, Urt. v. 08.01.2009 – 11 U 70/08). Dabei wurde grob fahrlässige Unkenntnis teilweise selbst für den Fall bejaht, dass der Prospekt erst bei oder sogar kurz nach der Zeichnung übergeben worden ist, teilweise nur für den Fall, dass der Prospekt ausreichende Zeit vor dem abschließenden Beratungsgespräch vorgelegen hat. Die (eine grobe Fahrlässigkeit verneinende) Gegenansicht verweist demgegenüber darauf, dass der Anlageinteressent regelmäßig auf die Richtigkeit und Ordnungsmäßigkeit der ihm erteilten Anlageberatung vertrauen und ihm eine unterbliebene „Kontrolle“ dieser Beratung durch Lektüre des Prospekts deshalb nicht ohne weiteres als schwerwiegender Verstoß vorgehalten werden dürfe. So insbesondere der III. Zivilsenat des BGH: Vertraue der Anleger auf den Rat und die Angaben „seines“ Beraters oder Vermittlers und sehe er deshalb davon ab, den ihm übergebenen Anlageprospekt durchzusehen und auszuwerten, so sei im Allgemeinen darin kein „grobes Verschulden gegen sich selbst“ zu sehen (BGH, Urt. v. 22.07.2010 – III ZR 99/09; BGH, Urt. v. 17.03.2016 – III ZR 47/15). Das Unterlassen einer „Kontrolle“ des Beraters oder Vermittlers durch Lektüre des Anlageprospekts weise auf das bestehende Vertrauensverhältnis zurück und sei daher nicht schlechthin „unverständlich“ oder „unentschuldbar“. Eine andere Betrachtungsweise stünde im Übrigen in einem Wertungswiderspruch zur gefestigten Rechtsprechung zur Frage des anspruchsmindernden Mitverschuldens, wonach der Informationspflichtige dem Geschädigten grundsätzlich nicht nach § 254 Abs. 1 BGB entgegenhalten könne, dieser hätte den Angaben nicht vertrauen dürfen und sei deshalb für den entstandenen Schaden mitverantwortlich (BGH, Urt. v. 13.01.2004 – XI ZR 355/02; BGH, Urt. v. 26.09.1997 – V ZR 65/96).
III. Nichtlektüre von Beratungsprotokollen, Gesprächsnotizen und Zeichnungsscheinen
Wie dem Berufungsurteil (OLG Frankfurt, Urt. v. 22.01.2016 – 24 U 156/14) zu entnehmen ist, enthielten die Zeichnungsscheine selbst unter anderem den Risikohinweis, dass es sich bei diesem Angebot zur Beteiligung mit Genussrechtskapital nicht um eine sog. mündelsichere Anlage, sondern um eine Unternehmensbeteiligung mit den im Emissionsprospekt beschriebenen Risiken handelt. Eine Kapitalanlage in einer Unternehmensbeteiligung stelle wie jede unternehmerische Tätigkeit ein Wagnis dar. Somit könne prinzipiell ein Verlust des eingesetzten Kapitals des Anlegers nicht ausgeschlossen werden. Der Kapitalanleger sollte daher stets einen Teil- oder gar Totalverlust aus dieser Anlage wirtschaftlich verkraften können.
Bei übersichtlich und allgemeinverständlich abgefasste Angaben und Risikohinweisen dieser Art in vom Anleger unterschriebenen Beratungsprotokollen oder Zeichnungsscheinen hatten mehrere Oberlandesgerichte (vgl. etwa OLG Düsseldorf, Urt. v. 21.06.2011 – 20 U 11/11; OLG Stuttgart, Urt. v. 05.09.2012 – 3 U 225/11 (Gesprächsnotiz); OLG Frankfurt, Urt. v. 29.09.2014 – 23 U 241/13 (Beitrittserklärung); OLG Karlsruhe, Urt. v. 03.03.2015 – 17 U 8/14 (Beitrittserklärung); OLG Celle, Urt. v. 23.06.2016 – 11 U 9/16 (Beratungsprotokoll)) grobe Fahrlässigkeit bei Nichtlektüre bejaht. Auch insoweit bleibt der III. Zivilsenat des BGH bei seiner Linie.
Zwar handele es sich bei der Zeichnung der Beteiligungen um rechtsverbindliche Willenserklärungen. Dies reicht aber nach Auffassung des BGH für sich allein nicht aus, um zum Nachteil des Anlegers automatisch den Vorwurf grober Fahrlässigkeit bei unterlassener Lektüre des kleingedruckten Inhalts der Zeichnungsscheine zu rechtfertigen. Ausgehend von dem Grundsatz, dass die empfohlene Anlage unter Berücksichtigung des Anlageziels auf die persönlichen Verhältnisse des Kunden zugeschnitten sein muss, der Berater also verpflichtet ist, den Kunden über die Eigenschaften und Risiken zu unterrichten, die für die Anlageentscheidung wesentliche Bedeutung haben oder haben können, besteht bei einem Anleger, der die besonderen Erfahrungen und Kenntnisse eines Beraters in Anspruch nimmt, die berechtigte Erwartung, dass er die für seine Entscheidung notwendigen Informationen in dem Gespräch mit dem Berater erhält. Deshalb darf der Anleger grundsätzlich auf die Ratschläge, Auskünfte und Mitteilungen, die der Berater ihm in der persönlichen Besprechung unterbreitet, vertrauen. Er muss regelmäßig nicht damit rechnen, dass er aus dem Text eines Zeichnungsscheins, der ihm nach Abschluss der Beratung zum (formalen) Vollzug der bereits getroffenen Anlageentscheidung vorgelegt wird, substantielle Hinweise auf Eigenschaften und Risiken der Kapitalanlage erhält.
Zu bedenken sind allerdings die vom BGH selbst angesprochenen Ausnahmen. Wenn der Berater den Anleger ausdrücklich darauf hinweist, dass er den Text der Beitrittserklärung vor der Unterzeichnung durchlesen soll und dem Kunden ausreichend Zeit hierfür gelassen wird, wird man von einem grob fahrlässigen Verhalten des Anlegers ausgehen müssen, wenn er sich später darauf beruft, er habe die Warnhinweise nicht gelesen. Gleiches gilt dann, wenn in der unterzeichneten Erklärung Warnhinweise deutlich hervorgehoben werden oder der Anleger gar Warnhinweise gesondert gegenzeichnen muss.

D. Auswirkungen für die Praxis

Der III. Zivilsenat des BGH setzt mit diesem Urteil seine Rechtsprechung fort, der zufolge in Prospekthaftungs- und Anlageberatungsfällen eine grob fahrlässige Unkenntnis i.S.v. § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB im Allgemeinen nicht schon dann vorliegt, wenn sich die für die Kenntnis der anspruchsbegründenden Umstände einer Aufklärungs- oder Beratungspflichtverletzung notwendigen Informationen aus dem Anlageprospekt ergeben, der Anleger es aber unterlassen hat, durch die Lektüre des Prospekts die Ratschläge und Auskünfte des Anlageberaters oder -vermittlers auf ihre Richtigkeit zu kontrollieren. Die Entscheidung betont erneut den Grundsatz des Vorrangs der mündlichen Beratung vor abweichenden Angaben in einem Emissionsprospekt und wendet diesen Grundsatz nunmehr auch bei einem Zeichnungsschein an, jedenfalls dann, wenn es keine besonderen Gründe und damit keinen konkreten Anlass gab, die Unterlagen zu kontrollieren.

E. Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung

In prozessualer Hinsicht weist die Entscheidung darauf hin, dass die Feststellung, ob die Unkenntnis des Gläubigers von verjährungsauslösenden Umständen auf grober Fahrlässigkeit beruht, als Ergebnis tatrichterlicher Würdigung einer Überprüfung durch das Revisionsgericht dahingehend unterliegt, ob der Streitstoff umfassend, widerspruchsfrei und ohne Verstoß gegen Denkgesetze, allgemeine Erfahrungssätze oder Verfahrensvorschriften gewürdigt worden ist, und ob der Tatrichter den Begriff der groben Fahrlässigkeit verkannt oder bei der Beurteilung des Grads des Verschuldens wesentliche Umstände außer Betracht gelassen hat (vgl. BGH, Urt. v. 08.07.2010 – III ZR 249/09 Rn. 27 f., BGH, Urt. v. 17.03.2016 – III ZR 47/15 Rn. 10 f.).

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