Nachfolgend ein Beitrag vom 20.6.2016 von Wozniak, jurisPR-InsR 11/2016 Anm. 2

Orientierungssätze zur Anmerkung

1. Die Haftung als faktischer Geschäftsführer setzt nicht die Erfüllung bestimmter Kriterien voraus; maßgeblich ist allein das Gesamtbild des Auftretens.
2. Stellt ein Dritter einem Schuldner bzw. seinem Vertreter ein Konto zur Verfügung, kann der Dritte gegenüber dem Insolvenzverwalter für zweckfremde Zahlungen gem. § 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 BGB haften.

A. Problemstellung

Die Entscheidung des LG Hannover betrifft mehrere, ineinander greifende Fragestellungen zur faktischen Geschäftsführung und der Aufrechterhaltung des Zahlungsverkehrs in der Krise durch Kontoleihe.
Das LG Hannover geht – anders als die bisher herrschende Meinung – von einer faktischen Geschäftsführung schon aufgrund des „Gesamtbildes“ des Auftretens aus, nicht erst bei Vorliegen einer Mehrzahl von relevanten Einzelkriterien. Gegen den faktischen Geschäftsführer bejaht das Gericht eine Haftung für den Fehlsaldo zwischen Betriebseinnahmen und -ausgaben.
Da im zu entscheidenden Fall der Zahlungsverkehr über ein Drittkonto abgewickelt wurde, prüft (und bejaht) das Gericht auch eine Haftung der Kontoinhaberin gem. § 812 BGB.
Gerade der letztgenannte Aspekt dürfte aus Verwaltersicht von erheblichem Interesse sein.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Der Kläger ist Insolvenzverwalter über das Vermögen der Insolvenzschuldnerin, einer GmbH, die eine Fahrschule betrieb. Er macht gegen die Beklagten als Gesamtschuldner Schadensersatz bzw. Bereicherungsansprüche geltend.
Die Beklagten sind miteinander verheiratet, leben aber seit vielen Jahren getrennt. Die Beklagte zu 1) unterhielt bei der Deutschen Bank ein Konto. Dieses stellte sie dem Beklagten zu 2) zur Verfügung. Dieser nutzte das Konto sowohl als Privat- als auch als Geschäftskonto, nachdem das Geschäftskonto der Insolvenzschuldnerin gepfändet worden war.
Alleinige Gesellschafterin war eine ehemalige Lebensgefährtin des Beklagten zu 2). Neben dem eingetragenen Geschäftsführer (der nach dem Inhalt der gerichtlichen Entscheidung wohl keine eigenständigen Geschäftsführungsmaßnahmen durchgeführt hat) agierte der Beklagte zu 2), der formal nur Angestellter der Insolvenzschuldnerin war, geschäftsführerähnlich. Er führte die Einstellungsgespräche für die Insolvenzschuldnerin und nahm Einfluss auf die Auswahl der Fahrschulfahrzeuge. Er nahm regelmäßig von den Filialen der Insolvenzschuldnerin die Tageseinnahmen entgegen und zahlte diese auf ein Konto der Beklagten zu 1) ein. Zudem leistete er dem eingetragenen Geschäftsführer der Insolvenzschuldnerin regelmäßig Gehaltszahlungen „aus der Hosentasche“.
Der klagende Insolvenzverwalter verlangt von den Beklagten als Gesamtschuldnern Beträge zurück, die sich aus dem Saldo der Einnahmen auf dem Konto und den Ausgaben ergeben. Er legt dar, dass nicht alle Einnahmen für betriebliche Zwecke verwendet worden seien, die Differenz daher als Privatentnahmen zu bewerten sei und der Beklagte zu 2) aufgrund seiner Stellung als faktischer Geschäftsführer hierfür hafte.
Die Beklagten verteidigen sich im Wesentlichen mit dem Bestreiten einzelner Zahlungen sowie den Umstand, dass die Beklagte zu 1) keinerlei Einblick in das Konto mehr gehabt habe, da sie es dem Beklagten zu 2) vollumfänglich überlassen habe.
Das Gericht erkennt dem Kläger einen Anspruch in wesentlichen Teilen der Klageforderung gem. § 43 Abs. 2 GmbHG zu.
Der Beklagte zu 2) sei bis zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens faktischer Geschäftsführer der Insolvenzschuldnerin gewesen. Für die Beurteilung der Frage, ob jemand faktisch wie ein Organmitglied gehandelt und als Konsequenz seines Verhaltens sich wie ein nach dem Gesetz bestelltes Organmitglied zu verantworten hat, komme es auf das Gesamterscheinungsbild seines Auftretens an. Danach sei es zwar nicht erforderlich, dass der Handelnde die gesetzliche Geschäftsführung völlig verdrängt. Entscheidend sei vielmehr, dass der Betreffende die Geschicke der Gesellschaft durch eigenes Handeln im Außenverhältnis maßgeblich in die Hand genommen hat (BGH, Urt. v. 25.02.2002 – II ZR 196/00 – BGHZ 150, 61, 69 f.).
Diese Voraussetzungen lägen bei dem Beklagten zu 2) vor. Er sei zwar mit der Insolvenzschuldnerin über einen Arbeitsvertrag verbunden. Jedoch lägen keine Anhaltspunkte vor, dass er sich in einer weisungsgebundenen und damit schutzbedürftigen Situation befunden habe. Er habe Einstellungsgespräche geführt und konnte als einziger über die Gelder der Gesellschaft verfügen. Damit sei er auch gegenüber der Bank als Geschäftsführer aufgetreten.
Der Insolvenzschuldnerin sei durch die Handlungen des Beklagten zu 2) ein diesem zurechenbarer Schaden in Höhe der zugesprochenen Klageforderung entstanden.
Der klagende Insolvenzverwalter habe nach den ihm vorliegenden Buchungsunterlagen die Ausgaben und Einnahmen des Kontos nachvollziehbar geschäftlichen bzw. privaten Ausgaben zugeordnet und damit den Betrag, der trotz geschäftlicher Einnahmen nicht zur Verwendung für geschäftliche Ausgaben verwendet wurde und der damit für die Insolvenzschuldnerin einen Schaden begründet, dargelegt. Er habe auch zur Verfügungsbefugnis des Beklagten zu 2) über das Konto vorgetragen. Damit habe der Kläger seiner Darlegungslast genügt, da er Tatsachen darzulegen hat, aus denen sich ein Schaden und dessen Verursachung durch ein Verhalten des Geschäftsführers ergibt, das als pflichtwidrig in Betracht kommt.
Der Beklagte zu 2) hingegen habe diese Positionen nicht mit Substanz bestritten. Im Hinblick darauf, dass dem Kläger mangels Sachnähe weiterer Vortrag nicht möglich sei, sei insoweit von einer sekundären Darlegungslast des Beklagten zu 2) auszugehen (BGH, Beschl. v. 13.03.2006 – II ZR 165/04). Der Beklagte zu 2) müsste entweder detailliert darlegen, dass die vom Kläger als geschäftlich aufgelisteten Einnahmen der Insolvenzschuldnerin tatsächlich private Einnahmen gewesen seien oder dass er konkret von diesen Einnahmen weitere betriebliche Ausgaben getätigt habe. Dies sei nicht erfolgt.
Das Gericht bejaht weiter einen Anspruch des Klägers gegen den Beklagten zu 2) nach § 80 Abs. 1 InsO i.V.m. § 826 BGB bzw. § 823 Abs. 2 BGB, § 266 StGB. Zu dem Anspruch aus § 43 GmbHG bestehe Anspruchskonkurrenz.
Schließlich erkennt das Gericht dem Kläger auch einen Anspruch gegen die Beklagte zu 1), die „Kontoverleiherin“, zu. Begründet wird dies mit § 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 BGB.
Dadurch, dass der Beklagte zu 2) Beträge, die der Insolvenzschuldnerin zustanden, treuwidrig auf das Konto der Beklagten zu 1) eingezahlt habe, das diese ihm zur Nutzung überlassen hatte, habe sie rechtsgrundlos einen Auszahlungsanspruch gegenüber der Deutschen Bank AG erlangt. Sie habe diesen Anspruch auch rechtsgrundlos „in sonstiger Weise“ auf Kosten der Insolvenzschuldnerin erlangt, da die Gutschriften aus ihrer Sicht mangels jeglichen Anlasses zur Zahlung nicht einmal Leistungscharakter i.S.d. § 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB haben konnten. Unerheblich für die Frage der Bereicherung der Beklagten zu 1) sei insofern, ob die Beklagten untereinander vereinbart haben, dass das Konto wirtschaftlich allein dem Beklagten zu 2) zustehen sollte und sich die Beklagte zu 1) bis zur Kontoauflösung tatsächlich jeden Zugriffs auf das Konto enthalten habe. Die erfolgten Gutschriften seien als Bereicherung der Beklagten zu 1) zu qualifizieren, weil sie Kontoinhaberin war. Derjenige, unter dessen Namen das Konto eingerichtet wurde und geführt wird, sei berechtigt, über das Kontoguthaben zu verfügen. Beschränkungen der Verfügungsmacht der Beklagten zu 1) aufgrund besonderer Vereinbarungen zwischen ihr und der Bank seien nicht vorgetragen. Daher konnte sie jederzeit verlangen, dass ihr das jeweilige Guthaben ausgezahlt wird.
Die Beklagte zu 1) könne sich nicht auf den Einwand der Entreicherung gemäß § 818 Abs. 3 BGB berufen, da sie nach den §§ 818 Abs. 4, 819 Abs. 1, 279 BGB verschärft hafte. Zwar fehlen Anhaltspunkte dafür, dass die Beklagte zu 1) von der Rechtsgrundlosigkeit der Gutschriften auf ihrem Konto Kenntnis hatte. Sie müsse sich jedoch die die Haftung verschärfende Kenntnis des Beklagten zu 2) über den Rechtsgedanken des § 166 Abs. 1 BGB zurechnen lassen. Der dieser Vorschrift zu entnehmende allgemeine Rechtsgedanke einer Wissenszurechnung werde auch dann herangezogen, wenn die Voraussetzungen einer rechtsgeschäftlichen Vertretung nicht vorlägen. Danach sei § 166 BGB im Rahmen des § 819 Abs. 1 BGB zumindest entsprechend anwendbar. Denn wenn jemand einen anderen – unabhängig von einem Vertretungsverhältnis – mit der Erledigung bestimmter Angelegenheiten in eigener Verantwortung betraut, müsse er es hinnehmen, dass ihm das in diesem Rahmen erlangte Wissen des Dritten als eigenes zugerechnet werde und er sich nicht auf eigene Unkenntnis berufen könne. Diese Voraussetzungen seien hier erfüllt.
Die Beklagte zu 1) hat das Konto bei der Deutschen Bank dem Beklagten zu 2) zum alleinigen Gebrauch überlassen und ihm insbesondere durch Überreichen von EC-Karten, Geheimzahlen und Transaktionsnummern des Onlinebanking für die Abwicklung seiner Geldgeschäfte zur Verfügung gestellt. Da die Beklagte zu 1) die alleinige Kontoinhaberin war, hatte der Beklagte zu 2) damit bei der Vornahme und Abwicklung von Geldgeschäften über ihr Konto eine tatsächlich ähnliche Stellung wie ein Vertreter. Es erscheint deshalb sachgerecht, der Beklagten zu 1) das in diesem Rahmen erlangte Wissen des Beklagten zu 2) entsprechend § 166 Abs. 1 BGB zuzurechnen.

C. Kontext der Entscheidung

Die Entscheidung des LG Hannover betrifft zwei Problemstellungen, die im Feld der Haftungsinanspruchnahme eines faktischen Geschäftsführers immer wieder von Relevanz sind und führt diese einer sinnvollen und praktikablen Lösung zu.
Einerseits geht es um die Frage, wer überhaupt faktischer Geschäftsführer ist, welche Voraussetzungen er erfüllen muss und in welchem Umfang er ggf. haftet.
Andererseits befasst sich das Gericht mit der Bereitstellung eines Kontos von dritter Seite und der Frage, inwieweit ein Haftungsdurchgriff auf den Kontoinhaber möglich ist.
Zur faktischen Geschäftsführung schließt sich das Gericht nicht der Meinung an, die die Erfüllung einer Mehrzahl vorab festgelegter, bestimmter Merkmale für die Eigenschaft als faktischer Geschäftsführer für erforderlich hält. Es argumentiert vielmehr damit, dass auf das Gesamterscheinungsbild abzustellen sei. Hier gelangt das Gericht zu einer faktischen Geschäftsführung, weil der Beklagte Einstellungsgespräche mit neuen Mitarbeitern geführt hatte und nur er Zugriff auf ein betriebsfremdes Konto hatte, nicht hingegen der bestellte Geschäftsführer. Insofern sei er nach außen auch gegenüber der Bank als Geschäftsführer aufgetreten.
Er hafte daher dem Grunde nach für den Fehlbestand, einerseits aus § 43 Abs. 1 GmbHG, andererseits aus § 43 Abs. 2 GmbHG, §§ 826, 823 Abs. 2 BGB, § 266 StGB. Ein Schaden sei hier dadurch entstanden, dass von dem Konto nicht nur Betriebsausgaben, sondern auch private Verfügungen erfolgt seien, wobei sich die Schadenshöhe aus dem Saldo von Betriebseinnahmen und -ausgaben ergebe.
Die Thematik „Haftung des Kontoinhabers“ ist von noch größerer praktischer Relevanz und dürfte künftig zu weiteren Klagen, gerichtet gegen tatsächliche Kontoinhaber, führen.
Indem der faktische Geschäftsführer Vermögen der Insolvenzschuldnerin treuwidrig auf das Konto einzahlte, das ihm zur Nutzung überlassen worden war, erlangte die Beklagte rechtsgrundlos einen Auszahlungsanspruch gegenüber der Bank.
Den Einwand der Entreicherung verbaut das Gericht der Beklagten über die verschärfte Haftung gem. § 818 Abs. 4 BGB, da sie sich die Kenntnis des faktischen Geschäftsführers gem. § 166 Abs. 1 BGB zurechnen lassen muss. Wenn jemand einen anderen unabhängig von einem Vertretungsverhältnis mit der Erledigung bestimmter Angelegenheiten in eigener Verantwortung betraue, müsse er es hinnehmen, dass ihm das in diesem Rahmen erlangte Wissen des Dritten als eigenes zugerechnet werde.

D. Auswirkungen für die Praxis

Die Entscheidung erleichtert dem Insolvenzverwalter ein Vorgehen gegen die faktische Geschäftsführung in zweifacher Hinsicht.
Einerseits wird nicht mehr sklavisch an der Erfüllung bestimmter (zum Teil eher willkürlich gewählter) Einzelmerkmale festgehalten, sondern klargelegt, dass für eine faktische Geschäftsführung auf das gesamte Auftreten des Handelnden abzustellen ist. So lässt das Gericht hier zwei wesentliche Aspekte (Einstellungsbefugnis und Auftreten gegenüber der Geschäftsbank) ausreichen, um von einer faktischen Geschäftsführung auszugehen.
Weit interessanter dürften allerdings die Ausführungen zu § 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 BGB sein. Hierdurch wird der Durchgriff auf den das Konto zur Verfügung stellenden Dritten ermöglicht. Die Praxis zeigt, dass diese Person regelmäßig nicht in finanziellen Schwierigkeiten steckt, da sie andernfalls nicht als kontobereitstellende Person gewählt würde. Somit wird eine Anspruchsverfolgung zumindest tendenziell erfolgversprechender. Dass der Entreicherungseinwand gem. § 818 Abs. 3 BGB abgeschnitten wird und die verschärfte Haftung greift, bei der zumindest analog über § 166 BGB eine Wissenszurechnung erfolgt, erleichtert den Haftungsdurchgriff deutlich.
Der Insolvenzverwalter wird derartige Kontenmodelle daher kritisch zu prüfen und ggf. auf Haftungsansprüche zu untersuchen haben. Als Schuldnervertreter kann von Fallgestaltungen der Kontoleihe spätestens seit der genannten Entscheidung nur noch abgeraten werden.